Cambridge und Querdenken

Erasmus lebte in Cambridge von 1510 bis 1515 im so genannten Queens College, in einem Raum im ersten Stock links in der Hall. Heute steht dieser Raum unter dem Namen Erasmus Room als Tagungsraum zur Verfügung, in dem ich nicht tagte. Wie Sie auf der Karte sehen können, gibt es auch ein Erasmus Building, das ich durch einen Spalt in der Dokett Pforte sehen konnte. Und es gibt einen Erasmus Walk, der über meiner linken Schulter hinter der Mathematikbrücke (die im übertragenen Sinne Erasmus und mich als Mathematiker verbindet) abgebildet ist. Aber auch Erasmus konnte ich nicht überprüfen, da die Universität während der Prüfungswochen für Besucher geschlossen ist. Beim nächsten Mal sollte ich darauf achten.

Als ich vor dem geschlossenen Tor stehe, nähert sich ein Mädchen und wird von ihrer Freund, die im Erasmus Building wohnt, hereingelassen. Ja, das ist das Gebäude auf der anderen Seite. „Ist das nach einer Person benannt? Daran habe ich noch nie gedacht“. Auch bei anderen, die ich auf der Straße anspreche, ist der Name Erasmus nicht sehr vertraut. Die Antworten reichen von: „Klar, Erasmus hat in Cambridge gelebt, aber wann war das noch mal?“ bis zu „Erasmus, das ist doch bestimmt etwas europäisches“.

Querdenker?

Bevor ich Cambridge verlasse, habe ich noch eine Verabredung mit Theodor Dunkelgrün, einem Niederländer, einem Spezialisten für frühneuzeitliche und jüdische Geschichte sowie einem Bewunderer von Erasmus. Dank ihm komme ich an den bebowlerhütteten Türwächtern vorbei, die auch Besucher von seinem Trinity College fernhalten. Er führt mich durch die Gebäude des Colleges und insbesondere durch die Bibliothek. Ein Fest für Liebhaber der Tradition, das versteht sich.

Danach trinken wir noch ein Glas Bier. Theo betrachtet Erasmus aus einem anderen Blickwinkel; als Historiker interessiert er sich viel mehr für seine Person und seine Schriften, z. B. über die Juden, während ich eher neugierig bin, was sein Vermächtnis heute ist. So weiß er mir zum Beispiel zu erzählen, dass Cambridge die einzige feste Stelle für Erasmus in seinem ganzen Leben war, dass er aber wegen der Pest einen großen Teil seiner Jahre außerhalb der Stadt verbrachte. Aber er erinnert mich auch daran, dass Erasmus über die Jahrhunderte hinweg eine Person war, auf die die Menschen ihre Ideale der Toleranz projizierten. Hugo de Groot tat dies bereits im 17. Jahrhundert, als er bei einem heimlichen Besuch in den Niederlanden eigens nach Rotterdam reiste, um die Statue seines Vorbilds als Vorkämpfer der Freiheit zu sehen. Das tat auch Stefan Zweig in seiner Biografie, in der Erasmus für ein friedliches, vereintes Europa steht. Offenbar sehen die Menschen jedes Mal in ihm die Verkörperung ihrer eigenen Ideen.

Theo bewundert die neue Erasmus-Biografie von Sandra Langereis, die ihn so schön in seine Zeit versetzt und zeigt, wie er gearbeitet hat. Ich frage ihn, was er von ihrem Titel hält: Dwarsdenker, d.h. Querdenker. Erasmus ging von einem Idealbild des Menschen aus, jedenfalls für Christen, der das Gute vor allem für andere, für die Welt und damit für sich selbst anstrebt. Ist das transversal? Und ist es quer oder gerade konsequent, Menschen nach diesem Kriterium zu beurteilen?

Mit dieser Frage verabschieden wir uns. Theo hat seine Erasmus-Vorlesungen in Cambridge zum letzten Mal gehalten, da er nach dem Sommer nach Antwerpen geht. Aber zumindest in Cambridge lebt der Name Erasmus weiter.

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