Eile mit Weile

“Eile mit Weile” ist der Titel einer Ausstellung im Erasmus-Haus in Brüssel, Anderlecht. Es ist eine klassische Weisheit, die Erasmus mit Zustimmung in seine Adagia aufnahm. Und wir halten sie immer noch für einen wertvollen Rat, so das einhellige Ergebnis einer – zu kleinen und nicht repräsentativen – Umfrage auf LinkedIn. So hart es auch sein mag, ich erlebe dieses Gefühl immer am Ende eines Radtages, an dem ich mich im Zug vielleicht ein oder zwei Stunden hingelegt habe; und dann muss ich mich als Rentner nicht einmal mit schrecklichen, hauptsächlich englischsprachigen Schreien von ‘deadline’ bis ‘agile’ auseinandersetzen.

Bei meinem Besuch im Erasmus-Haus am 5. September treffe ich Hélène Haug, die herausragende Erasmus-Expertin des Hauses und Absolventin des Institut Érasme in Louvain-la-Neuve. Sie erzählt mir, wie das Haus konzipiert wurde, um die Menschen für die Ideen von Erasmus zu interessieren. Ziel ist es, Gespräche über die Kräuter zu führen, die Erasmus brauchte, um seine schwache Gesundheit zu stärken, aber auch über Humanismus und Bürgersinn. Einige Aktivitäten richten sich vor allem an Schüler im Alter von 9 bis 14 Jahren, “die eher bereit sind, sich zu beteiligen als ältere Menschen; Erwachsene hören eher zu”. Für Erwachsene gibt es Führungen und Vorträge mit Diskussion (auch online) sowie Lateinunterricht, um die klassische Kultur wie die Humanisten zu erleben. So lebt der Geist von Erasmus im Haus weiter.

In Brüssel bin ich auch mit Cynthia De Bruycker und Luc Hellinckx von der Erasmushogeschool (EhB) verabredet, wo ich im vergangenen Oktober zu Gast war. Sie wollen von mir wissen, ob ich auf meiner Reise irgendwelche guten Beispiele gesehen habe, die dem Namen Erasmus gerecht werden. Das ist enttäuschend: Das Erasmus Forum hat seinen Namen ausdrücklich wegen der toleranten Haltung und dem Streben nach Fairness von Erasmus gewählt, aber die meisten Einrichtungen kommen über den Begriff “Connector” nicht hinaus. Cynthia erklärt, dass innerhalb des EhB darüber nachgedacht wird, was Humanismus in der heutigen Bildung bedeuten kann. Wie mehrere andere Mitarbeiter hat auch sie vor kurzem die Erasmus-Biografie von Langereis erhalten und über die Feiertage durchgelesen.

Wir sprechen unter anderem auch über die zunehmende Anzahl von Regelwerken. Aber kann man jemanden wirklich ansprechen, wenn man ihn unehrlich oder unanständig findet? Ohne gemeinsame Ansichten über Fairness und Anstand ist das eine persönliche Meinung, und weil unsere Gesellschaft mit gemeinsamen Werten kämpft, gibt es immer mehr Verhaltensregeln.

Und so dreht sich auch in der EhB und im Erasmus-Haus das Gespräch um die Frage, ob es Institutionen erlaubt sein sollte, Menschen zu formen, indem sie ihnen ihre Wertvorstellungen aufzwingen. Nicht wenige fürchten heute, dass ein solcher gesellschaftlicher Zusammenhalt auf Kosten der individuellen Freiheit geht. Erasmus jedoch hatte davor keine Angst. Er war davon überzeugt, dass das Streben nach Werten wie Frieden, Vernunft und Nächstenliebe besser für die Gesellschaft ist und auch jedem Einzelnen mehr Glück bringt als das Streben nach irdischem Wohlstand. Und er war der Meinung, dass Erzieher ihren Schülern diese Philosophie mit Nachdruck vermitteln sollten.

Der Weg nach und in Brüssel ist mir mittlerweile vertraut, und so eilte ich nach ein paar weiteren schönen Tagen mit Weile durch das warme Sommerwetter nach Hause.

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